Die Politik kümmert sich zu wenig um die Alltagssorgen der Menschen, findet die frühere Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang. Grund für ein Gespräch über Lebensmittelpreise, Mieten, Schulen – und die Frage, wie viel Meinungsverschiedenheiten eine Gesellschaft aushalten muss.
Viele Menschen fühlen sich alleingelassen von der Politik, nicht gehört, Debatten würden zu elitär geführt. Gleichzeitig wird das Leben immer teurer, das Wohnen ist längst nicht mehr für alle leistbar. So geht es nicht weiter, findet die Grünen-Politikerin
Seit einigen Monaten arbeitet sie nicht mehr von der Bundesgeschäftsstelle ihrer Partei aus, sondern verbringt die meiste Arbeitszeit in ihrem kleinen Bundestagsbüro. Die ausgesuchten Bilder hat sie noch nicht aufgehängt, außer ein Zitat der französischen Philosophin Simone de Beauvoir: "On ne naît pas femme: on le devient" (deutsch: "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es").
Seit sie nicht mehr Parteichefin ist, tritt Lang öffentlich befreiter auf. Auf Social Media versucht sie, politische Themen verständlich herunterzubrechen. Im Interview bitten wir sie deshalb, an einigen Stellen kurze Entscheidungsfragen zu beantworten.
Frau Lang, regionales Gemüse vom Markt oder Einkaufen beim Discounter?
Ricarda Lang: Ehrlicherweise schaffe ich es selten zum Markt. Ich gehe meistens auf dem Nachhauseweg beim Supermarkt vorbei.
Bei Ihnen mag das eine Zeitfrage sein. Viele Menschen sind auf Einkäufe beim Discounter angewiesen. Die gestiegenen Lebensmittelpreise treiben jedenfalls viele Menschen um. Welche Antworten haben Sie darauf?
Erstens müssen wir bei den Löhnen ansetzen. Ende des Monats will die zuständige Kommission den neuen Mindestlohn vorschlagen. Sollte der unter 15 Euro pro Stunde liegen, habe ich eine klare Erwartung an
Und zweitens?
Sogar die Europäische Zentralbank spricht bei den Lebensmittelpreisen von einer Profitinflation. Hier sollten wir über Maßnahmen wie eine Übergewinnsteuer nachdenken – für Konzerne, die nachweisbar die Inflation ausnutzen, um ihre Preise übermäßig zu erhöhen.
Nimmt die Politik diese Themen ernst genug?
Nein. Viele Menschen haben das Gefühl: Was ich an der Supermarktkasse oder bei Angehörigen im Pflegeheim erlebe, spielt politisch kaum eine Rolle. Das ist die Achillesferse der Parteien – auch meiner eigenen. Politik muss mehr sein als die Verwaltung von Verlusten: Die Menschen sollten sich darauf verlassen können, dass Politik gute Bedingungen schafft – auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Fragen der Mobilität.
Offenbar ist das auch Ihrer Partei in der vergangenen Wahlperiode nicht gelungen – dabei haben die Grünen mitregiert. Sie gelten aber nicht gerade als Partei, die nah an den Alltagssorgen der Menschen ist.
Das sehe ich als eines der größten Versäumnisse meiner Zeit im Parteivorsitz. Auch ich habe zugelassen, dass der Eindruck entsteht, die sind doch meilenweit von meinem Alltag entfernt. Aus meiner Sicht braucht es jetzt drei Dinge. Zunächst: Brechen wir alles, was wir fordern und tun, auf den konkreten Lebensalltag der Menschen herunter. Zweitens: Seien wir klar in materiellen Fragen. Wer trägt denn die Kosten, die ja auch gute Veränderung mit sich bringt? Und wie sorgen wir dafür, dass es nicht diejenigen sind, die ohnehin wenig haben? Am Ende entscheidet sich Alltagsnähe auch an Verteilungsfragen. Abschließend: Entwickeln wir eine klare Vision davon, wo wir hinwollen. Gerade im Alltäglichen, von der überhöhten Miete über die marode Kita bis hin zum einzigen Bus im Dorf, sollte meine Partei es sein, die an vorderster Stelle für Verbesserungen eintritt – im Sinne der Vielen statt Klein-Klein, wo nötig auch gegen den Widerstand der wenigen Großen.
Apropos, Alltägliches: Mieten oder Kaufen?
Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Leute wirklich entscheiden könnten – gerade auch im Sinne der Altersvorsorge. Aber der Immobilienkauf wird für viele auch in den nächsten Jahren unerschwinglich bleiben.
"Politik ist nicht machtlos. Sie schafft sich bloß manchmal ihre eigene Inszenierung der Machtlosigkeit."
Gleichzeitig steigen die Mieten in vielen Städten immer weiter. Diese Entwicklung hat die vorige Bundesregierung mit grüner Beteiligung nicht aufhalten können.
Dabei hatten wir uns im Koalitionsvertrag einiges vorgenommen. Das Ziel aber, 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, hat die Bauministerin verfehlt – nicht zuletzt, weil das Bauen durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer teurer wurde. Mehr Mieterschutz oder eine Verlängerung der Mietpreisbremse wiederum fielen der FDP-Blockade zum Opfer.
Es entsteht der Eindruck, dass die Politik bei Themen wie den Mietpreisen machtlos ist.
Politik ist nicht machtlos. Sie schafft sich bloß manchmal ihre eigene Inszenierung der Machtlosigkeit. Am Ende ist es eine Frage von Mut und Durchsetzungsfähigkeit. Wenn beides zusammenkommt, ist die Demokratie wie kein zweites System in der Lage, sich zu korrigieren und Freiheit zu ermöglichen – nicht für eine kleine Elite, sondern in der Breite.
Dann werden Sie gerne konkret: Was müsste beim Thema Wohnen passieren?
Meine Fraktion hat den Weg dafür freigemacht, dass die neue Koalition mehr in den Wohnungsbau investieren kann. Das muss dann jetzt aber auch passieren. Bei der Mietpreisbremse müssen Ausnahmen weg – zum Beispiel sollte sie auch für möblierte Wohnungen gelten. Und: Grund und Boden sind ein knappes, nicht vermehrbares und damit wertvolles Gut. Hier trägt der Staat besondere Verantwortung. Der Bund sollte das Vorkaufsrecht seiner Immobilienanstalt deutlich stärken. So könnten wir mehr Flächen und Immobilien in die öffentliche Hand überführen – und für günstigen Wohnraum sorgen.
Studium oder Ausbildung?
Bei mir: Studium. Aber die Ausbildung braucht einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft. Ein Meister ist nicht weniger wert als ein Master.
Die Menschen fühlen sich alleingelassen mit den alltäglichen Problemen – das spiegelt sich auch an deutschen Schulen wider. Schulen werden zunehmend zum Tatort rechter Straftaten, sie sind aber auch mit der Integration überfordert. Lässt die Bundesregierung die Schulen damit gerade allein?
Ja, das berichten mir auch Lehrerinnen und Lehrer. Statt die Probleme aber konkret anzugehen, schieben sich Bund und Länder weiter die Verantwortung zu. Das kann nicht Teil der Lösung sein.
Sondern?
Der Bund braucht mehr Kompetenzen in der Bildungspolitik. Dafür müssen wir das Kooperationsverbot zu einem Kooperationsgebot umwandeln. Und natürlich müssen wir mehr in Bildung investieren. Aus guten Gründen setzen wir etwa auf Integration und Inklusion in der Schule, statten sie dafür aber nicht gut genug aus. Insgesamt ist der Anteil, den Deutschland in Bildung investiert, im europäischen Vergleich gering. Und wir investieren zu spät: Kitas und Grundschulen geraten zu sehr aus dem Fokus. Dabei werden hier die Weichen fürs Leben gestellt.
"Immer häufiger führen wir unsere Debatten doch nur noch binär: schwarz oder weiß, ja oder nein, gut oder böse. Und immer schneller werden dabei Positionen für untragbar erklärt, die eine Demokratie eigentlich tragen können sollte."
Mehr Fachkräfte oder mehr Investitionen können aber nicht immer die einzige Lösung sein.
Das stimmt. Deshalb sollten wir dringend daran arbeiten, die Mittelverteilung zu vereinfachen. Vor lauter Bürokratie und Hürden werden viele Gelder von den Schulen gar nicht erst abgerufen.
Im gesellschaftlichen Diskurs spielt in all den angesprochenen Themen auch immer wieder die Meinungsfreiheit eine Rolle. Reden oder Schweigen?
Reden, reden, reden. Das machen wir zu wenig.
Viele Menschen haben aber das Gefühl, sie dürfen ihre Meinung nicht mehr sagen.
Ich denke, hier sollten wir differenzieren. Auf der einen Seite stehen Menschen wie Sahra Wagenknecht, die sich mit der Behauptung, nichts mehr sagen zu dürfen, phasenweise in drei Talkshows pro Woche hat canceln lassen. Oft sind es auch diejenigen, die am lautesten nach Meinungsfreiheit rufen, die sie am massivsten angreifen, sobald sie an der Macht sind: Donald Trump ist da nur ein Beispiel. Aber auch ich erlebe, wie manche Debattenräume enger werden. Immer häufiger führen wir unsere Debatten doch nur noch binär: schwarz oder weiß, ja oder nein, gut oder böse. Und immer schneller werden dabei Positionen für untragbar erklärt, die eine Demokratie eigentlich tragen können sollte. Das tut uns nicht gut.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Jürgen Habermas. Der Philosoph hat 2022 einen offenen Brief geschrieben, in dem er Waffenlieferungen an die Ukraine angezweifelt hat. Ich persönlich fand viele seiner Argumente falsch, aber auch, wie schnell er als unerwünschte Stimme beiseitegeschoben wurde. Wir sollten als Gesellschaft nicht verlernen, die großen Debatten zu führen – mit Vehemenz, aber auch in Ruhe und Respekt vor den Gedanken unseres Gegenübers.
"Ich glaube, unsere Gesellschaft ist gar nicht so gespalten, wie sie scheint. Und wie es uns diejenigen glauben machen wollen, die von der Spaltung profitieren."
Wie viel Meinung müssen wir als Gesellschaft denn aushalten?
Viel. Sehr viel.
Ist die oft beklagte fehlende Meinungsfreiheit nicht eigentlich ein Widerspruch? Wir haben heute so viele Kommunikationskanäle wie noch nie. Zugleich wird etwa Hassrede im Internet nicht konsequent verfolgt.
Je mehr Menschen mitreden, desto komplizierter wird es. Gleichzeitig erleben wir eine Hyperpolitisierung von Kleinigkeiten, die derart groß diskutiert werden, dass die grundlegenden Themen untergehen. Kommen dann noch die sozialen Medien ins Spiel, deren Algorithmen vor allem Verkürzung und Polemik belohnen, entsteht schnell das Gefühl einer polarisierten Gesellschaft. In Wahrheit haben die allermeisten Leute aber doch ähnliche Wünsche: einen Job, von dem sie gut leben können, eine stabile Infrastruktur, intakte Natur. Ich glaube, unsere Gesellschaft ist gar nicht so gespalten, wie sie scheint. Und wie es uns diejenigen glauben machen wollen, die von der Spaltung profitieren.
Über die Gesprächspartnerin
- Ricarda Lang ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags. Sie war von Februar 2022 bis November 2024 gemeinsam mit Omid Nouripour Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Von Oktober 2017 bis November 2019 war sie Bundessprecherin der Nachwuchsorganisation Grüne Jugend.